Rund zwei Drittel der geflüchteten Menschen in Ilvesheim sind Männer. Einzelereignisse lassen die Öffentlichkeit dabei nur an Probleme denken. Wir wissen, was sie wirklich antreibt und beschäftigt. Wie geht es ihnen wirklich, was sind ihre Motivationen und Bedürfnisse, ihre Träume und Hoffnungen? Wie wirken Erstaufnahmelager, Notunterkünfte, Behörden und die Einheimischen auf sie? Wir Ehrenamtlichen haben täglich Kontakt mit ihnen.
Soziale Kontakte
Die jungen Männer wünschen sich Begegnung und Freundschaften mit Deutschen. Selbstverständliche Zugangswege, Schule, Arbeitsplatz, Jugendclub, Verein oder Gemeinde fehlen ihnen. Gelegenheiten deutsch zu sprechen, beschränken sich auf die Supermarktkasse oder auf Haupt- und Ehrenamtliche Helfer. Es ist schwierig, Deutsch zu lernen ohne im Kontakt mit (gleichaltrigen) Deutschen zu sein und gleichzeitig schwer, Kontakt aufzunehmen, wenn man die Sprache nicht beherrscht. Die Berichterstattung über Straftaten führt zu pauschalen Vorurteilen. Sie werden nicht als Person wahrgenommen, sondern oft als „gewalttätiger Flüchtling“. Sie erleben Beschimpfungen. Um (in-)direkte Rassismuserfahrungen zu vermeiden, ziehen sie sich zurück.
Wohnen und Unterbringung
Frauen und Familien werden in Unterkünfte, die mehr Ruhe, Sicherheit und Privatsphäre bieten, eingewiesen.
Männer kommen in Ilvesheim meist in eine WG, wo sie mit Fremden im selben Zimmer schlafen. Die beengte Wohnsituation und fehlende Rückzugsräume und Privatsphäre, die bis in die intimsten Lebensbereiche hineinreichen, schränken massiv ihre Autonomie und Handlungsfähigkeit ein. Dies erschwert ein selbständiges Handeln. Es herrscht das Gefühl, fremdkontrolliert zu sein, und viele leiden unter dem auffälligen Verhalten Einzelner. Ruhestörungen sind für Nachbarn, aber auch für Flüchtlinge, eine Qual. Fehlende Rückzugsmöglichkeiten wirken psychisch belastend. Alle jungen Männer wollen aus dieser Fremdbestimmtheit schnell heraus. Sie wünschen sich eine eigene Wohnung, um Privatsphäre, Sauberkeit, Sicherheit, Raum für Konzentration zum Lernen und Ruhe, also ein selbständiges Leben, zurückzugewinnen. Bei der Suche nach Wohnraum gibt es verdeckte und ganz offene Diskriminierungserfahrungen. Ohne Hilfe haben sie in Ilvesheim („ich vermiete nicht an Flüchtlinge“) keine Chance auf dem Wohnungsmarkt.
Bildung und Arbeit
Lange Wartezeiten auf Sprachkurse oder Arbeitserlaubnis bremsen junge Flüchtlinge aus. Rückschläge beim Sprachkurs oder bei der Arbeitssuche rauben Selbstbewusstsein. Frustration ist vorprogrammiert, da ihnen häufig eine realistische Einschätzung ihrer Chancen im deutschen Ausbildungs- und Berufssystem fehlen. Für Wohlbefinden und Zugehörigkeitsgefühl ist ein Arbeitsplatz, oder wenigstens die realistische Aussicht darauf, entscheidend. Sprache und Beschäftigung sind Meilensteine, um Anschluss an die Aufnahmegesellschaft zu finden, persönliche Netzwerke zu entwickeln und ein selbständiges Leben zu führen.
Familie
Die jungen Männer vermissen ihre Familie und sind einsam. Unsicherheit bezüglich Familiennachzug und die Angst um Eltern, Geschwister oder Ehefrau und Kindern belasten ihren Alltag sehr und erschweren ein „Ankommen“ in Deutschland. Umso wichtiger ist der Kontakt mittels Telefon und WhatsApp: das gibt Kraft und Durchhaltevermögen. Von dort kommt aber auch oft der Druck, schnell zu arbeiten, um zum Beispiel die Kosten der Flucht zurückzuzahlen und die Familie finanziell zu unterstützen. Ehe und Vaterschaft haben traditionell einen hohen Stellenwert. Der Wunsch in Deutschland zu heiraten und eine Familie zu gründen scheitert an der erlebten Wirklichkeit. Der Übergang vom Jugend- ins Erwachsenenalter muss gleichzeitig mit der Integration in eine neue Gesellschaft gemeistert werden. Wichtig wären hier mehr unterstützende Strukturen, um diesen Konflikt bewusst zu bewältigen. Bei Männern, die mit ihrer Familie geflüchtet sind, entstehen manchmal innerfamiliäre Konflikte. Sie verlieren ihre Rolle als Stütze und Ernährer der Familie. Die Position ihrer Frau verändert sich, beispielsweise durch zunehmend außerfamiliäre Aktivitäten. Ehemals festgeschriebene Geschlechterrollen werden zur Verhandlungssache und mit dem Verlust von Selbstbestimmung und Berufstätigkeit sind die erlernten Männlichkeitsanforderungen im neuen Umfeld für den Mann oft schwer zu erfüllen. Wir Ehrenamtlichen stehen vor der Herausforderung, bewusst beide Geschlechter gleichberechtigt in Prozesse einzubeziehen.
Gesundheit
Die Flucht und der Status Flüchtling machen alle sehr verletzbar. Viele sind traumatisiert und kommen in Deutschland bereits mit Schlafstörungen, Albträumen oder Depressionen an. Nach ihrer Ankunft entstehen oft Druck und psychische Belastung durch Unterbringung, lange Wartezeiten, Untätigkeit, Frustration und Einsamkeit. Es ist schwierig, mit der Unsicherheit bezüglich des Anerkennungsverfahrens, ihrer Wohn- und Arbeitssituation und möglichen Familiennachzugs umzugehen. Sie fühlen sich hilflos und erleben einen Verlust von Selbstwirksamkeit und Selbstbestimmung, der sich massiv auf ihre Psyche auswirkt. Nicht immer ist therapeutische Hilfe nötig, um mit den belastenden Erlebnissen umzugehen. Sozialer Kontakt mit anderen Gleichaltrigen und positive Erlebnisse unterstützen sehr.
Fazit
Die Herausforderung bleibt es, vernünftigen Menschenverstand zu zeigen und Helfer zu finden.
Mehr Infos auch in einer Studie zum Thema unter www.movemen.org